Bildhauerin, Skulpteurin und Engel der Tiere.
Im Westen von Graz, auf die Steinbergstraße auffahrend, nehme ich über Oberberg, Rohrbach und Steinberg (Standpunkt der Johannes Kepler Volkssternwarte) den Weg Richtung Rohrbach. Über enge Serpentinen, die durch den Wald talwärts führen, erreiche ich den Kreisverkehr und fahre über Jaritzberg nach Stiwoll. Obwohl die Strecke höchstens 24 Kilometer misst, glaubt man, eine endlose Reise in unbekanntes Gebiet zu unternehmen. Vorbei an dicht bewaldeten Abhängen, einem alten Anschlag, der auf die vielen Stollen der aufgelassenen Bergwerke hinweist, fahre ich in die Gegend der geschichtenumwobenen Lourdesgrotte, deren Wasser eine heilsame Wirkung bei Augenkrankheiten nachgesagt wird.
Bald habe ich die Pfarrkirche des Ortes ausgemacht, um mich orientieren zu können. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, kein Auto auf der Dorfstraße unterwegs, nicht einmal ein Traktor vor einem Gehöft auszumachen. Stiwoll liegt abseits der Hauptverkehrsstraßen. Ein verlassener Fleck. Die Pyhrn Autobahn ist von hier 17 km entfernt und über die Anschlussstelle Gratkorn erreichbar, die Süd Autobahn 24 km weit weg, wenn man zur Anschlussstelle Mooskirchen gelangen will. Gleich hinter dem Friedhof von Stiwoll führt ein Seitenweg in einem leichten Bogen bergwärts, der in einen Privatweg mündet. Ein zurückgezogener Flecken am Baderbach, einem Nebenfluss der Lieboch, zwischen Wiesen und undurchdringlichen Fichtenwäldern. Schon taucht das Bauernhaus von Elisabeth Luschin auf. Davor das Stallgebäude, an dessen bergansteigender Seite im Oberstock das Atelier und Skulpturenlager der Künstlerin untergebracht ist. Darunter liegt ein zugefrorener Tümpel. Enten und Gänse laufen über das Eis, beobachtet von Hühnern und dem Haushund Willi. Dazwischen die lustig gackernden Hauben-Seidenhuhnkreuzungen, eine alte Rasse mit Ursprung in den Niederlanden, die pfeilschnell zwischen den Hufen von vier Pferden (einem alten Wallach von 29 Jahren und drei Arabern: Großmutter, Mutter und Tochter) durchlaufen und sich einem Schaf anschließen, das hier gemütlich den Lebensabend verbringt. Der krähende Haushahn, ein mich mit aufforderndem Muhen begrüßendes Zebu und zwei ganz leise schnatternde Stummenten namens Hanni und Nanni (anders als herkömmliche Enten, die laut quaken, können sie wirklich nur „flüstern“) neben spielenden Kätzchen runden das Idyll ab. Elisabeth Luschin kommt mir über die Treppen des Wohn- hauses entgegen, begleitet von zwei Tauben, die sie einstens großzog und die auf ihrer Schulter Platz genommen haben.
Mittlerweile scheint es sich in dieser Gegend eingebürgert zu haben, dass alle kranken und alten Geschöpfe, um die sich keine Menschenseele mehr kümmern will, hier einfach abgegeben werden. Allein die Androhung, ein altes Tier einschläfern zu lassen, läßt das große, tierliebende Herz der Künstlerin schmelzen – und ein neuer Dauergast findet am Hof seine Heimat.
Im Atelier fällt mir sofort die lebensgroße Skulptur „Einheit“ auf – ein Unikat, das im Jahr 2010 fertiggestellt wurde und in sechsjähriger Arbeit entstanden ist. Eine Weltkugel, an deren Meridianen sich unzählige Einzelskulpturen schmiegen, einander mit einer Leichtigkeit stützen und halten, wie eine Gruppe von Fallschirmspringern, die das Fluggerät verlassen haben, einen Formationssprung im freien Fall absolvieren und sich an den Händen fassen. Ein Aufruf der Künstlerin, sich weltweit die Hände zu reichen, ein Plädoyer für den Frieden.
Elisabeth Luschin, am 26. April 1959 in Graz geboren, berichtet, dass Plastiken und Skulpturen schon seit ihrer Kindheit eine ganz besondere Attraktion für sie darstellten. Mit sechs Jahren war ein Kunstbuch über Michelangelo Buonarroti aus der Bibliothek ihrer Mutter der erste Anstoß, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Denkmäler, steinerne und eiserne Standbilder sowie Brunnenplastiken übten eine besondere Faszination auf sie aus; mit ihren Kinderhänden spürte sie den Formen nach und speicherte Aufbau, gestalterische Linien, Oberflächenformen und Strukturen im Gedächtnis, aber „erst sehr spät“, wie sie erzählt, „hatte ich den Mut, meiner Begabung auch nachzugehen und kreativ tätig zu werden“. Luschins persönlichste Herausforderung wurde es, ihren Werken den Anschein von Lebendigkeit zu vermitteln und Strukturelles zu erschaffen, das im Auge des Betrachters Bewegungsabläufe entfaltet – fast filmische Abfolgen von Einzelbewegungen –, die sich in den in Bronze gegossenen Skulpturen manifestieren. Die frühen Werkgruppen „Irish Step Dance“ sowie die Skulpturen „Turnerin mit Ball/Band/ Keulen/ Reifen“ und „Golfer“ zeigen das ganz deutlich. Ihr zweites Anliegen ist es, mit dem harten und schweren Werkstoff der Bronze Gefühle zu vermitteln. Sie versteht es meisterhaft, Zwischenmenschliches skulptural umzusetzen – sowohl schöpferisch als auch gestaltend. So sind in ihren Kompositionen Sehnsüchte, Schutzbedürfnis, Ablehnung, Freude, Hassgefühle, Dominanz, Demütigung und Schmerz geradezu leibhaftig spürbar. Alles Dinge, die Elisabeth Luschin selbst erfahren musste und stets in ihre Werke zu trans- ponieren versucht. „Sicherheitsabstand“, „Yes or No“, „Schutz“, „Baum des Lebens“, und „Leid“ sind Skulpturen, die diese Werkserien besonders repräsentieren.
Am Beginn noch mit Ton gestaltend, kreiert sie seit 2002 Bronzeplastiken und Steinskulpturen, bzw. Kombinationen aus Bronze und Stein. Die Technik der Steingestaltung erlernte sie bei verschiedenen Bildhauern. Die Kombination aus Bronze und Stein stellt eine besondere Herausforderung dar. Das Modell der Bronzeform muss nämlich größer als die Aussparungen im Stein ausgeführt werden, da durch die gussbedingte Materialschrumpfung die Werkstücke beim Zusammenfügen nicht passgenau wären. Ein gelungenes Beispiel ist das Unikat „Tanz“, eine Bronze-Marmor-Skulptur in der Höhe von 122 cm.
Die Vorarbeit erfolgt fast ganz ohne Skizzen und Entwürfe. Durch ihr fotografisches Gedächtnis und die Begabung, sich Formen durch Ertasten einzuprägen, ist eine Umsetzung der Komposition ohne Vorlage möglich. So konnte sie auch die sportlichen Bewegungsabläufe von Eiskunstläuferinnen bei deren Übungen in der Grazer Eishalle für die Arbeit an den Bronzen – Werkgruppen „Training“ und „Denise“ – in ihrem Kopf persistent machen und danach im Atelier abrufen. Ihr handwerkliches Können, das sie anfänglich mit keramischen Massen perfektionierte, kann sie nun auch bei Arbeiten mit der Gipsmasse anwenden, die Ausgangspunkt für die Modelle der großen Bronzegüsse sind. Bei kleineren Skulpturen werden die Modelle aus Wachs gebaut, bevor sie mit Entlüftungs- und Gusskanälen in Schamott verpackt werden. Der im Brennofen durch das ausgebrannte Wachs entstandene Leerraum wird mit Gussmaterial gefüllt. Bei dieser Technik kommt meistens eine Mischung aus Kupfer, Zinn und Zink zur Anwendung. Nachdem es abgekühlt ist, wird der Schamott abgeklopft. Zum Schluss werden, falls vorhanden, Gießränder verputzt und nach Geschmack erfolgt eine Politur der Oberfläche.
Luschins Schöpfung „Der Tanz“ hat einen Platz in Innsbruck gefunden. Beim Workshop „Mother Earth“, zu dem Künstlerinnen aus verschiedensten Kulturen der Welt eingeladen wurden, war sie mit ihren Werken die einzige österreicherische Ausstellerin. Die Präsentation fand 2007 im Rathaus in Graz statt.
Ein ganz intimes Werk (eine Auftragsarbeit), in dem sich die gestalterische Kraft der Künstlerin mit ihrem feinen Gefühl für das Materialverhalten der Bronze vereinigt, ist die Portraitserie von verstorbenen Mitgliedern der deutschen Industriellenfamilie Hoffmann, die u. A. eine berühmte Strumpf- und Wirkwarenfabrik in Karlsruhe betrieb. Diese angeschnittenen Bronzeportraits, jeweils mit einem Durchmesser von 55 cm und nach historischen Fotos geschaffen, reihen sich in bereits vorhandene reliefartige Abbildungen gleicher Größe ein, die alle im 19. Jahr- hundert entstanden und auf einer Familiengruft nahe Chemnitz platziert sind.
Ausgewählte Arbeiten Luschins waren im Galerie10er-Haus in Gmunden, beim Aprilfestival 2015 auf Schloss Freiberg, im Juni des gleichen Jahres im Kulturhaus Bruck an der Mur sowie bei der Herbstausstellung 2015 in Ljubljana zu sehen. Präsentationen auf Schloss Kornberg 2012, das Projekt „Eigene Geschichte(n)“ im Künstlerhaus Graz 2015, eine Beteiligung im Rahmen der Ausstellung „Alice im Wunderland“ des Steiermärkischen Kunstvereins Werkbund sowie „Die Zeitmaschine“ in der Halle für Kunst & Medien im Dezember sind nur einige Details ihrer umfangreichen Ausstellungstätigkeit. Ein beliebter Treffpunkt für Kunstinteressierte und Sammler ist auch jedes zweite Jahr der „Tag der offenen Ateliertüren“ in Stiwoll.
Neben der kreativen Tätigkeit, dem Betreuen der Landwirtschaft mitsamt aller pflegebedürftigen Tiere und der Ausübung eines Teilzeitjobs in einer Arztpraxis hat die Künstlerin auch drei Kinder großgezogen. Die älteste Tochter Simone hat das Studium der Kunstgeschichte in Graz mittlerweile be- endet, die zweite Tochter Anna studiert in Graz Pädagogik und Sohn Felix besucht die HTL. Wie dies alles zeitlich unterzubringen ist und wie Elisabeth Luschin-Ebengreuth diesen Elan aufbringt, ist geradezu unbegreiflich. Da sie mit Begeisterung über neue künstlerische Arbeiten und Ausstellungsprojekte erzählt, mache ich mir aber keine Sorgen über ihre zukünftige Leistungsfähigkeit.
Ihrer ersten Publikation „Der Beginn 2002“ hat sie ein Zitat des deutschen Schriftstellers Hans Kudszus vorangestellt: „Benennbares Leid ist halbes Leid, unbenennbares doppeltes.“ Und fügt selbst hinzu: „Umgekehrt trifft das Gleiche für Freude zu. Durch meine Skulpturen halbiert sich mein Schmerz und verdoppelt sich meine Freude. So beleben Glück und Leid meine Skulpturen, sie ermöglichen mir, durch Bearbeiten zu verarbeiten“.
Weitere Informationen ersehen Sie unter http://luschinart.com mit einer wunderbaren Auswahl von Plastiken und Skulpturen (ein Augenschmaus), einer Liste der Ausstellungen sowie persönlichen Gedanken der Künstlerin.
Aus der Portraitreihe: Westendstorys von R.W. Sackl-Kahr Sagostin
Photographie & Text: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
Instagram: _sagostin_