Eine Kindheit in Lieboch.
Ein Gespräch in gleißendem Sonnenlicht auf der Brücke nahe dem Ortskern, die den Liebochbach quert – einen 28 Kilometer langen Nebenfluss der Kainach, der in dieser Gegend einfach Lieboch genannt wird. Mit dem Galeristen, Kunstsammler und Buchautor Günter Eisenhut stehe ich vor seinem Elternhaus in der Packerstraße 113.
Günter Eisenhut erzählt auf Burgtheaterniveau, flüssig und akzentuiert, als würde er aus einem unsichtbaren Werk rezitieren. Das große Thema dreht sich um Erinnerung, Vergessen und Identität, und fast bin ich an den autobiografischen Roman Familienstammbuch (Livret de famille) des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano erinnert, der diesem Werk passenderweise ein Zitat des französischen Dichters René Char voranstellte: Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren.1) Von den Kindheitserinnerungen sind für Günter Eisenhut jene von größtem Interesse, in denen die tief greifenden Veränderungen Kontur annehmen, die seit den 1950er-Jahren unsere Lebensumstände verändert haben und für ihn umweltbezogen, sozialpolitisch und weltanschaulich von Bedeutung sind.
Direkt an der Straße, damals mit Makadam belegt und hauptsächlich von Gespannen befahren, lag neben der Brücke das Elternhaus. Es beherbergte in der Nachkriegszeit das Gemischtwarengeschäft der Eltern und das Gasthaus der Tante, eine legendäre Backhendlstation, in der auch viele Mitglieder des Angelvereins zu Gast waren. Dahinter waren ein Wohnhaus, ein Stall und eine große Scheune angebaut – die Landwirtschaft, die der Onkel bewirtschaftete. An der beschatteten Seite, direkt am Ufer des Flusses liegend, kann man sich auf der Brücke stehend vorstellen, wie hinter der Waschküche und einem großen Misthaufen die Obstgärten bis zu den Feldern reichten. Heute ist das straßenseitige Biedermeierhaus verunstaltet, geradezu zerstört, und dient als Logis für eine Pizzeria, ein Optikgeschäft und eine Bankfiliale, durch deren Anbau es völlig seiner Proportionen beraubt wurde. Das, was Günter Eisenhut von seiner Geburt 1946 bis zum Jahre 1957, als er nach Graz ins Internat musste, am Fluss erleben durfte, ist heute nur mehr zauberhafte und abenteuerliche Erinnerung. Ein unbegradigter Flusslauf, dessen Bachbett sowie Uferböschungen nicht durch Steinauspflasterungen zerstört waren. Die angrenzenden Uferbereiche waren ein Paradies für Insekten, Reptilien und Wasservögel. In den Mäandern fanden sich Pflanzenarten, die nach der Flussbegradigung und Vernichtung der Altarme ihren Lebensraum verloren.
Wir gehen zusammen Richtung Wasserlauf und Günter Eisenhut weist mich auf eine Fläche hin, wo früher ein hölzernes Podest mit Tischen und Sesseln vor der Gastwirtschaft stand, auf dem im besetzten Nachkriegsösterreich anlässlich des Oktoberstreiks 1950 Kommunisten und Sozialdemokraten in eine Rauferei geraten sind. Als kleiner Bub wollte er mit seinem Freund hilfreich zur Seite stehen und riss am Bachbett lange Ruten ab, um die Streitenden daran zu hindern, mit Fäusten brutal aufeinander loszugehen. Um ihre Konflikte ehrenvoll zu bereinigen, duellierten sich nämlich damals die Kinder mit diesen Ruten.
An der Flussseite führten neben der Waschküche Stufen ins Bachbett. Unvergesslich sind Eisenhut die Laichwanderungen der vielen Fischarten, die er von dort beobachteten, konnte. Silbrig glänzende Weißfische, Nasen mit ihren graugrünen Rücken, standorttreue Forellen, Äschen, Steinbeißer, die ihre Nahrung nur nachts suchten und Neunaugen mit ihren aalartigen, langgestreckten Körpern bildeten ein Zauberreich im Fluss. Mit Emailschüsseln fing er kleine Fische und studierte sie in selbst gebauten Bassins, die mit Kieseln ausgelegt waren, bevor sie wieder ins fließende Gewässer freigelassen wurden. Das Fangen der Forellen mit der Hand beherrschte er meisterhaft war diese Fähigkeit doch ausschlaggebend, in einer Bubengruppe einen hohen sozialen Status zu erreichen. Getötet und gegessen wurden diese Forellen nie. Stets wurden sie wieder in den Fluss zurückgeworfen, der damals viel breiter und tiefer war. Vor Überschwemmungen schützte man die Hauseingänge mit Lehmwällen. Stieg der Wasserstand bedrohlich an und war der Garten überflutet, konnte Günter Eisenhut mit den Holzbottichen, in denen in der Waschküche die Wäsche gekocht wurde und die als Bootsersatz herhalten mussten, durch den Obstgarten „in See stechen“.
„Es war üblich, dass im Spätherbst für die Einstreu in den Ställen dürres Seegras und Laub gesammelt wurde. Bei dieser Gelegenheit hatten wir Kinder die Aufgabe, die riesigen Mengen von Schneeschwämmen, Mißling genannt, in großen Körben einzusammeln, die es im pilzreichen Wald in Massen gab. In dieser Jahreszeit wuchsen auch herrliche Steinpilze mit samtig-dunkelbrauner Kappe, mit gebauchten, gelblichen Stielen, fest und ohne Würmer. Da die von den Eichhörnchen leer gefressenen Zapfen und die dürren, herabgefallenen Äste aufgesammelt wurden, bot der Wald einen gepflegten Anblick. Das Totholz war Gemeineigentum, jeder Bedürftige konnte es nehmen. Es gab so viele Ameisenhaufen, dass der Aufsichtsjäger Michael Pichler die Küken für die Fasanerie mit den Eiern als Kraftfutter aufziehen konnte. In jetziger Zeit hat die Übersäuerung durch die über Luftströme verfrachtete Nitratdüngung das Pilzvorkommen radikal dezimiert. Und die großen Erntemaschinen in den Wäldern hinter- lassen meist ein unstimmiges Bild.“ Im Winter war es das größte Vergnügen der Kinder, am zugefrorenen Bach bis Kainach Schlittschuh zu laufen.
Dorf und Umgebung waren ein Universum. Fluss, Auen und Wälder die Welt. Wie Pierre Loti schon in seinen Kindheitserinnerungen anmerkte: „… Wälder, … in denen wir unumschränkt herrschten; niemand beaufsichtigte unsere Unternehmen, mochten sie auch noch so ausgefallen sein.“2) Günter Eisenhut hatte in der dritten und vierten Klasse der Volksschule Lieboch den hervorragenden Lehrer Alexander Schmid, der noch dazu ein Nachbar und der Onkel seines Busenfreundes Maxi Freisinger war. Bei ihm gab es wenige Aufgaben, da sehr viel im Unterreicht gelernt wurde. „Im Freundeskreis der Gleichaltrigen war meist nach dem Mittagessen ein Treffen in kleinen Gruppen und ein gemeinsamer Nachmittag bis zum Abend möglich, wo wir verlässlich zu Hause sein mussten. Da die Erwachsenen keine Zeit hatten, sich um uns Halbwüchsige zu kümmern, hatten wir große Freiheit in vieler Beziehung: Unsere Spielplätze waren nicht nur unsere Behausungen, sondern die Obstgärten, Wiesen und Äcker, der angrenzende Wald, die Bachläufe und das Bahngelände, und wir entdeckten sie in ausweitendem Umfang für uns. Die Strecken wurden meist im Dauerlauf zurückgelegt, so intensiv war unser Spiel und so vielfältig die Ideen und Möglichkeiten. Von Regatten mit selbstgeschnitzten Rindenschiffchen auf über- fluteten Feldern bis zum Wettreiten auf großen Schweinen war so viel möglich, wie unsere Phantasie trug. Bei Schlechtwetter waren es die Stadel, Heuböden und Ställe der Bauernfamilien, in denen wir uns herumtrieben, manchmal durch einen Zuruf ermahnt, nichts anzustellen, aber so selbstverständlich wahrgenommen wie eine Schar Hühner im Obstgarten. Es gab kaum Zäune, die Türen der Häuser der Freunde waren für uns offen und wenn wir auftauchten, um etwas zu trinken oder Obst zu essen, gab es keine Umstände und Formalitäten. Das ganze Dorf und seine weitere Umgebung bis zur tiefen und schnell fließenden Kainach mit seiner Mayr-Melnhofschen Fasanerie und den Wäldern bis Tobelbad und Söding war unser Reich, begrenzt nur durch wenige Regeln. Nur wenn wir vergaßen, den Hahn des uns verbotenen Mostfasses abzudrehen, bei der Fronleichnamsprozession im Takt der Marschmusik Eis schleckten oder uns mit am Dachboden gefundenem Schwarzpulver die Augenbrauen versengten, war das Donnerwetter gewaltig. Ein Reich der Freiheit voller intensiver Spiele und Abenteuer.“
Wir gehen gerade am Flussufer entlang, um unter der Brücke auf eine Wiese jenseits der Hauptstraße zu gelangen. Günter Eisenhut erinnert sich: „In den 1950er-Jahren hatten die Bauern in Lieboch noch von Kühen und Ochsen gezogene große Leiterwägen, Traktoren gab es kaum und erste Dreschmaschinen lösten gerade die Dreschflegel ab. Der Vater von Maxi Freisinger beauftragte uns, am Acker die großen Pferdebremsen von den an der Hinterseite des Wagens angebundenen Kühen mit Weidenzweigen fernzuhalten. Da der Lüsenbach unmittelbar daneben die herrlichsten Äschen beheimatete, überredete ich Maxi, kurz nach ihnen zu sehen. Plötzlich gab es ein Krachen und Splittern, die Kühe hatten die eingebremsten Hinterräder in ihrer Qual der Bremsenstiche hochgehoben und der Wagen war mit der Deichsel über die Böschung tief ins kiesige Bachbrett gerammt. Ich habe damals feige das Weite gesucht und meinen Freund seinem Schicksal überlassen.“
Von unglaublichem Fischreichtum in dieser damals unverfälschten Natur zeugt auch eine weitere Erinnerung. An einem Schlechwettertag bei seinem Freund Maxi zu Gast, dessen Großvater, Kriegsinvalide des Ersten Weltkrieges, am anderen Ufer die Trafik betrieb, fanden sie am Dachboden beim Spielen unwahrscheinlich dicke und lange Bambusstangen sowie Rebschnüre mit starken Haken. Maxis Großvater erzählte, dass er vor der Regulierung der Kainach mit dieser Ausrüstung riesige Fische gefangen hat. Karpfen, die 15 Kilogramm wogen und große, grün-bräunliche Hechte, die manchmal bis zu einem Meter lang waren.
Aufgrund der Überschwemmungen wurde ab 1952 mit der Regulierung des Baches begonnen. Schon als Kind bemerkte Eisenhut, dass ein unerhörter Eingriff in die Natur erfolgte. Das Gebüsch entlang des Flusses wurde gerodet. Um die Arbeiter daran zu hindern, die großen Erlen und Weiden abzuschneiden, versuchten die Kinder verzweifelt, dies zu vereiteln, indem sie den über den Bach verlaufenden Pfosten mit feuchtem Lehm einrieben und hofften, die abstürzenden „Eindringlinge“ dazu zu bringen, den Bau einzustellen. Ungeachtet dessen nahm das Schicksal aber seinen Lauf und Eisenhut erklärt mir detailliert, wie dieser ehemals blühende Bach mit seinem ungeheuren Reichtum an Leben Stück für Stück ruiniert wurde. Das Rinnsal, neben dem wir heute stehen, an den Seiten und am Bachgrund ausgekleidet, ist ohne Leben und schaut wirklich armselig aus.
Günter Eisenhut ist aber keineswegs desillusioniert. Weist er mich doch auch auf viele Renaturierungen und gelungene Rückbauprojekte für zerstörte Flüsse hin. Beispielweise die Wiederherstellung von Aschach, Leitenbach und Sandbach in Oberösterreich, die vor über 80 Jahren reguliert wurden und nun durch den Ankauf von Flächen wieder ihre natürliche dynamische Entwicklung aufnehmen dürfen.
Hochstauden und Gehölze, die an Ufersäumen gepflegt werden, sind wertvolle Lebensräume. Röhrichte arbeiten als ökologische Kläranlage und übernehmen eine wesentliche Funktion in der Reinhaltung der Gewässer. Ein weiteres Problem ist die Industrialisierung der Landwirtschaft. Unabdingbar sind eine standortangepasste Landnutzung mit bedarfsgerechter Düngung, vorsichtigstem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und ausreichend große Pufferflächen. Für das vor allem im Maisanbau eingesetzte Atrazin hat sich das Anwendungsverbot (durch Aufhebung der Zulassung) bewährt. Im Beobachtungszeitraum Juli 2011 bis 2013 wurden im Rahmen der Erhebung der Wassergüte in Österreich in insgesamt 807.807 Einzelmessungen insgesamt 131 verschiedene Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffe und dem Grundwasser schädliche Abbauprodukte untersucht.3) Auch Schwall und Sunk, in kurzer Zeit auftretende große Wasserstandschwankungen, wie sie durch Wasserkraftnutzung entstehen sowie Veränderungen der Wassertemperatur wirken negativ auf die Gewässerökologie. Plastik und Mikroplastik in Gewässern, hervorgerufen durch Abschwemmung, Abwasser, Windverfrachtung oder Littering sind eine eigene Herausforderung. Eisenhut berichtet, dass in österreichischen Gewässern nur rund 15 Prozent des ursprünglichen Fischbestandes erhalten ist, manche Fischarten wie Zingelstreber, Strömer und Koppen verschollen oder überhaupt ausgestorben sind.
Als Kunstsammler und Galerist ist es für ihn grundlegend, Maltechnik, Intensität und Rhythmus von Kunstwerken zu studieren und ikonographisch zu denken. Auch die Natur beobachtet er mit diesem ihm eigenen Blick, unablässig und genau. Mit der großen Achtung, die er dieser entgegenbringt, registriert er auch deren vielfältige Verflechtungen und Abhängigkeiten – die Barriere, die sich zwischen Zweck und Nutzen auftut. In seinem Manifest „Es gibt keine Missstände der Natur. Es gibt nur Missstände des Menschen.“ brachte Friedensreich Hundertwasser die Problematik im Mai 1990 auf den Punkt: „Wenn der Mensch glaubt, die Natur korrigieren zu müssen, ist es jedesmal ein nicht wiedergutzumachender Fehler. Es sollte nicht einer Gemeinde zur Ehre gereichen, wieviel selbstgewachsene Natur sie zerstört, sondern es sollte vielmehr für eine Gemeinde Ehrensache sein, soviel wie möglich von ihrer natürlichen Landschaft zu schützen. Der Bach, der Fluß, der Sumpf, die Aulandschaft in ihrer gottgewollten Beschaffenheit müssen uns heilig und unantastbar sein.“4)
1) „Vivre, c‘est s’obstiner à achever un souvenir.“
2) „Roman eines Kindes“, Pierre Loti. Manesse, Zürich 1994.
3) Elfter Umweltkontrollbericht (UKB) – 5. „Wasser“, p.130, Umweltbundesamt, 2016
4) „Es gibt keine Mißstände der Natur. Es gibt nur Missstände des Menschen.“ In: Friedensreich Hundertwasser: „Schöne Wege. Gedanken über Kunst und Leben. Schriften 1943-1999“, München 2004.
Aus der Portraitreihe: Westendstorys von R.W. Sackl-Kahr Sagostin
Photographie & Text: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
Instagram: _sagostin_