Vergnüglich und inspirierend war es, mit Frau Dr. Hedwig Wingler-Tax in deren Haus in Köflach eine lange Unterhaltung zu führen. Ein in viele Themenbereiche ausuferndes Gespräch bei vielen Espressi aus einer italiengrünen Bialetti – Fiammetta- Maschine. Auch sehr ehrenvoll, da sie auf philosophischem und literarischem Gebiet für ihre Forschungstätigkeiten und unzähligen Veröffentlichungen, auch zu historischen Themen, eine Institution darstellt. Dabei hat sie aber niemals ihren  feinen, eleganten Humor eingebüßt. Ihr österreichischer Charme ging trotz des Einflusses preußischen Lebensstils in Berlin nicht verlustig, und die großzügige Berliner Weltsicht wiederum konnte sie in die weststeirische Heimat mitbringen.

Gleich beim Betreten ihres Hauses fiel mir eine Skulptur auf, die vielleicht symbolisch für das Leben von Hedwig Wingler steht. Ein Koffer aus Terrakotta, fast einen halben Meter breit, eine eindrucksvolle Skulptur des in Berlin lebenden Bildhauers Gerald Matzner aus der Werkreihe „Mensch und Gepäck“ aus dem Jahre 1989. Da hatte ich sofort die Melodie des Chansons des Schriftstellers und Komponisten Ralph Maria Siegel im Kopf: „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“.

Und noch etwas Symbolhaftes ist auffallend: ein schmerzhaftes Kindheitstrauma und zugleich früher Kontakt mit Literarischem durch eine verunglückte Injektion des Arztes und Dichters Hans Kloepfer. Sie verursachte eine eiternde Wunde am Arm, die später durch den schon sehr Betagten aufgeschnitten werden musste. So hinterließ Kloepfer einen symbolträchtigen Stempel in Form einer Narbe auf der Hautoberfläche der kleinen Hedwig.

Hedwig Wingler-Tax wurde am 17. Mai 1939 in Rosenthal an der Kainach geboren. Sie war die erste von drei Töchtern des Ehepaares Hedwig und Dr. jur. Herbert Tax. Ihr Geburtshaus musste, weil es auf einem Braunkohlegebiet stand, im Jahr 1943 dem Bergbau weichen. Alle Ressourcen an Kohle und Eisen galt es in den letzten beiden Kriegsjahren in der damaligen Ostmark zu nutzen, um die Waffenproduktion für den „Endsieg“ zu sichern. Schon davor, im Jahr 1940, übersiedelte die Familie nach Köflach.

Nach dem Volksschulbesuch in Köflach folgte zwischen 1949 und 1957 die Mittelschulzeit im Akademischen Gymnasium in Graz, dem ältesten Gymnasium der Steiermark, das für seine klassisch-humanistische Tradition berühmt ist.    Sicher ausschlaggebend für den späteren Bildungsverlauf und die Hinwendung zu Sprache und Geist war die Ausbildung in Latein und Altgriechisch. Leiter der Schule war damals übrigens Ferdinand Tremel, bekannter Universitätsprofessor für österreichische Geschichte und Obmann des Historischen Vereins für Steiermark. Der Schulweg führte sie immer von der Strassoldogasse kommend über die Treppe zwischen Dom und Mausoleum in die Bürgergasse zum Tummelplatz. Wochentags wohnte sie ja in der Stadt, um nicht jeden Tag zwischen Köflach und Graz pendeln zu müssen.
Nach der Matura  studierte sie  ab 1957 Philosophie und klassische Philologie an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Beim Besuch von literarischen Veranstaltungen und dem damals beliebten Nikolauskränzchen der Germanisten mit einer Studienfreundin kam sie in Kontakt mit Alfred Kolleritsch, der in ihr die Liebe zur Literatur entfachte.  Der junge Philosoph Rudolf Haller wiederum, damals noch Universitätsdozent, brachte Hedwig Wingler dazu, sich mit Phänomenologie und Transzendentalphilosophie zu beschäftigen. 1964 schloss sie daher ihr Studium als Dr. phil. unter den legendären Lehrstuhlinhabern Amadeo Silva-Tarouca und Konstantin Radaković auch mit einer Arbeit über den österreichischen Philosophen Edmund Husserl ab, dem  Begründer dieses philosophischen Zweiges. Seine programmatische Schrift von 1910/11 bildete die Basis, „Philosophie als strenge Wissenschaft“ auszuloten.

Nach einer Funktion als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altphilologie an der Universität Graz (1964– 1967) folgte aufgrund einer interessanteren Anstellung der Umzug nach Darmstadt als Hochschulassistentin am dortigen Institut für Philosophie, Pädagogik und Psychologie unter dem Ordinarius und Direktor Karl Anna Schlechta (Nietzsche-Forscher und Herausgeber der Werke Friedrich Nietzsches in drei Bänden bei Hanser1)) an der Technischen Hochschule (1967–1975). In Darmstadt lernte sie auch ihren späteren Mann, Hans Maria Wingler (1920– 1984) kennen. Der Ehe mit dem berühmten deutschen Kunsthistoriker2) – ab 1960 Leiter des von ihm konzipierten und mit Unterstützung von Walter Gropius gegründeten Instituts Bauhaus- Archiv – entstammt Sohn Johannes.

Hans Wingler, der das Archiv als Teil eines großen Museums zu Recht nicht repräsentativ fand, übergab Walter Gropius einen Flächenwidmungsplan der Darmstädter Rosenhöhe, um von ihm einen neuen Archivkomplex entwerfen zu lassen. Wingler akzeptierte eine Planung mit Sheddächern, die eine Ausleuchtung durch den natürlichen Lichteinfall aus Norden blendfrei ohne Bildung von Schlagschatten ermöglichen, konnte das Bauvorhaben in Darmstadt politisch aber nicht durchsetzen. Walter Gropius gelang es daraufhin, den damaligen Berliner Bau- senator Rolf Schwedler dafür zu interessieren, das Bauhaus-Archiv nach Westberlin umzusiedeln, sozusagen in die letzte Wirkungsstätte des historischen Bauhauses. Auf einem flachen Grundstück des  Landwehrkanals entstand der neue Gebäudekomplex von Walter Gropius und seinen Mitarbeitern Alex Cvijanovic und Hans Bandel.

Zeitgleich erfolgte 1973 der Umzug mit der Familie nach Berlin. Nach einer Zeit des Pendelns gab Hedwig Wingler 1975 ihre Stellung in Darmstadt auf und konzentrierte sich auf literarische und philosophische Themen. Sie arbeitete u. a. für den SFB (Sender Freies Berlin) und veröffentlichte viele Fachbeiträge in Zeitschriften wie  „Philosophy and History“, „Studies in Nietzsche and the classical tradition“ („Aristotle in the Thought of Nietzsche and Thomas Aquinas“), historisch-philosophische Abhandlungen und immer wieder Literarisches. Der Arbeit am Heimatmuseum Charlottenburg entsprang auch ein Projekt, das Hedwig Wingler besonders am Herzen liegt: ihre Untersuchung über Veränderungen der Besitzverhältnisse 1933-1945 am Beispiel einiger Straßenzüge in Charlottenburg, exemplarisch dargestellt anhand der Lebensgeschichte von sechs jüdischen Familien. Ein äußerst penibel recherchiertes Forschungsprojekt, das Fakten über jüdische Identitäten, Enteignungen, Arisierungen, verfolgungsbedingte Verkäufe, Veräußerungen, Emigrationen, Zuzug, Umzug und Weg- zug vor und nach 1933, sowie Wiedergutmachungen nach 1945 dokumentiert – geradezu ske­let­tie­rt.

Nach dem Tod Hans Maria Winglers (1984) arbeitete die Philosophin und Publizistin im sicher traditionsreichsten Kunsthaus Deutschlands – der Galerie Nierendorf in der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg, unter dem berühmten Florian Karsch, Stiefsohn des Gründers Josef Nierendorf3), und war für Ankäufe zuständig.

Seit 2000 wieder in Köflach im elterlichen Haus wohnhaft, verschrieb (auch im wörtlichen Sinne) Hedwig Wingler ihr Leben dem permanenten literarischen und philosophischen „Unruhestand“.  Als Verfasserin der Informa- tionstafeln des „Köflacher Stadtrundganges“ vermittelt sie symbolhaft an alten und neuen Gebäuden deren Nutzung, gibt Zeugnis über Veränderung in Architektur und Umbauung, erinnert an vergessene Bewohner. Die mittlerweile 45 Stationen spiegeln auch eine Neustrukturierung wider, die diese weststeirische Stadt nach dem Verlust des Bergbaus und dem Ende der bekannten Schuhproduktion durchlief. Anzumerken ist, dass Hedwig  Winglers Interesse, besonders an der Geschichte Köflachs, schon 1975, nach dem Erscheinen des Buches von Hanns Koren „Momentaufnahmen – Menschen, die mir begegnet sind“  entfacht wurde. Der Autor schreibt darin auch über seinen Lebensfreund, den Großvater Hedwig Winglers, Anton Tax, als Lehrer und Landschaftspfleger.
Unter dem Titel „Annäherungen an die Steiermark 1997 bis 2007“ entstanden literarisch-dokumentarische Aufzeichnungen, die in der Zeitschrift Korso publiziert wurden: Erlebnisse patriotischer Art (beispielweise über eine Hochzeitsgesellschaft in einem Bauernwirtshaus am Reinischkogel) und unter migratorischen Vorzeichen Erlebtes (Emanuel mit indischer Mutter und rumänischem Vater über den Besuch in der Köflacher Yoga-Gruppe). Ein Denkmal heimischen Grundgefühls, gesammelt aus wissenschaftlichem Interesse an Alltäglichem, der Freude an der Dokumentation von Stimmungslagen und nicht zuletzt auch gespeist vom ländlichen Humor, der so leicht ins fürchterlich Abstruse abgleiten kann. Darüber Hedwig Wingler: „Seit etwa zehn Jahren schreibe ich tagebuchartige Texte, die ich Briefe vom Lande nenne – sie schildern die Befindlichkeit, an zwei voneinander entfernten Orten daheim zu sein. Die Texte beziehen sich auf Anlässe in einem Rahmen, der mehr als meine Privatheit einschließt“.

Wingler publizierte Literarisches über die Gegend des Zigöllerkogels und den „Blick auf Graz von außen“ unter dem Titel „Erinnertes und nicht Erinnertes“, herausgegeben von Franz Dampfhofer im Verein „Provinz-Aktion Weststeiermark“. Texte, die auch von Klaus Hoffer und Alfred Kolleritsch 2003 im Verlag Droschl  unter „Graz von aussen“ veröffentlicht wurden. In der „Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“ der Theodor Kramer Gesellschaft erschienen kritische Aufsätze wie „Von Faymann zu Schachtelhalm“, oder „Kriegsende 1945 in der Steiermark“.

Seit Gründung der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ erschienen  in diesem Medium weit über 200 Beiträge von Wingler. Angefangen im Heft Nummer 4 des Jahres 1962, noch mit H.Tax gekennzeichnet, „Wieland der Mythenschmied“ bis zum Artikel über Emma Braslavsky im Herbst 2016, „Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen“. Und auch ein wichtiger Text über dieses besondere literarische Organ und dessen  Geschichte, die  untrennbar mit Alois Hergouth,  Alfred Kolleritsch, Günter Waldorf und Caesar W. Ernst verbunden ist und den Titel „Die manuskripte auf der Maschine getippt“ trägt,  wurde im Oktober 1980 in der Tageszeitung „Die Presse“ publiziert.

Erwähnt sei auch das aktuell erschienene Werk „Welt. Krieg. Götter. Grenzen. Über Bücher und ihre Orte.“ Die Autorin untersucht Werke, die sich ihr besonders einprägten, ihr lesenswert und literarisch wichtig sind. Verlegt ist diese Essay-Sammlung von der edition keiper, ebenso wie das Werk „Erinnertes und nicht Erinnertes“.
Abschließend ein Textauszug aus dem Tagebuch Hedwig Winglers, notiert 2005, stellvertretend für Stil und Aufbau der vielen tagebuchartigen Texte, die sie „Briefe vom Land“ nennt. Avanciert ist der Absatz im Buch „Annäherungen“ sowie auszugsweise in der Zeitschrift Korso, die nach nahezu 14 Jahren monatlichen Erscheinens im Februar 2011 eingestellt werden mußte, unter dem Sonderteil „Die ersten zehn Jahre“:  2005 „Toni, bist narrisch.“ Ohne Ausrufungszeichen sagte es der Mann. Im Schaukasten am Eingang zum Friedhof hing eine Todesanzeige für einen gewissen Anton Sowieso. Der Mann stand davor und der Tote war offensichtlich sein Freund, mit 46 Jahren gestorben. Ich stand daneben. Dieser Dialekt hat etwas Entlastendes, fast Therapeutisches. Neulich im Radio Hans Moser in einem Filmausschnitt, er sagt mit hoher Stimme: „Also sammas?“, aufgeregt, emotional; und dann, ins fast Hochdeutsche gewendet, die Stimme ein wenig tiefer, versachlicht sozusagen: „Sind mir soweit?“ Eine reiche Welt, wenn die Sprache seine Welt ist.

Eine reiche Welt ist es, zwischen Architektur und Literatur, Geschichte verflossener Zeit und Kunstgeschichte, mit genügend Platz für immer neue Projekte, in der sich Hedwig Wingler in  Köflach bewegt – unterbrochen von Reisen nach Berlin. Eingebettet zwischen Ruhepausen, in denen sie auf ihrem Flügel Schubert und Beethoven spielt. Immer bereit, die täglich neu erblühenden Ideen in Texte umzusetzen; diese mit Erlebtem und Erfahrenen analytisch zu kombinieren oder neu zu komponieren. Und, um mit Edmund Husserl zu sprechen: „Die Idee der Wissenschaft […] ist eine überzeitliche, […] durch keine Relation auf den Geist einer Zeit begrenzt.“4)

Aufgrund ihrer jugendlichen Erscheinung und geistigen Frische bin ich überzeugt, dass Hedwig Wingler auch zukünftig viele neue literarische Projekte beginnen wird, die Philosophisches gleichermaßen einschließen wie Themen aus Volkskunde, Architektur und bildender Kunst.


1) Diese Ausgabe wird auch als „Schlechta-Nietzsche“ bezeichnet. Der „philologische Nachbericht“ im dritten Band dieser Ausgabe und die Berichterstattung darüber (u. a. Titelgeschichte im Spiegel) machten die verfälschenden Tätigkeiten des Nietzsche-Archivs erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt und lösten eine größere Diskussion aus.

2) Zu den Schwerpunkten seiner kunstwissenschaftlichen Arbeiten gehörten expressionistische Malerei, vor allem Oskar Kokoschka und das Bauhaus. 1957/58 sowie 1959/60 als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Harvard University am Busch-Reisinger-Museum in Cambridge/Massachusetts (USA). Hans Maria Winglers umfangreiche Aufzeichnungen, seine Korrespondenzen sowie der wissenschaftliche Nachlass befinden sich als Hans-Maria-Wingler-Archiv im Bauhaus-Archiv. Seine private Bibliothek befindet sich im Centre allemand d’histoire de l’art in Paris.

3) Gegründet wurde die Galerie 1920 von den Brüdern Karl (1889–1947) und Josef (1898–1949) Nierendorf in Köln. 1936 ging Karl Nierendorf in die USA und eröffnete in New York die Nierendorf Gallery. Florian Karsch (1925–2015) und Ehefrau Inge Karsch eröffneten 1955 die Galerie neu als Galerie Meta Nierendorf in einem Raum der Buchhandlung von Josef Nierendorfs gleichnamiger Witwe.

4) Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. Husserliana, Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Band XXV, Lancaster 1987. 10. März 2017

Aus der Portraitreihe: Westendstorys von R.W. Sackl-Kahr Sagostin
Photographie & Text: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
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