Ein Leben für den Ausdauersport.
Um Werner Patz zu besuchen, führt mein Weg durch den Kreisverkehr nach Voitsberg über Bärnbach, vorbei an Afling bis zur Gemeinde Kainach. Nach Überquerung des gleichnamigen Flusses und dem Passieren der Dorfstraße, an der die Kirche Sankt Georg liegt, geht es bald den Schlossergrabenweg steil bergauf. Eigentlich ein stiller, entlegener Land- strich der Weststeiermark, würden nicht viele Interessierte anreisen, um die Sunfixlhöhle zu besuchen, die einen montanhistorischen Wanderweg beherbergt, die Wallfahrtskirche zum Heiligen Wasser mit dem Augustinibrunnen in Augenschein zu nehmen oder im oberen Kainachtal eine Wanderung zur Burgruine Hauenstein, aus dem 13. Jahrhundert stammend, zu unternehmen.
In der ersten Linkskurve des Schlossergrabenweges biege ich in eine noch steilere Straße bergauf ab und sehe sogleich das Haus der Familie Christine und Werner Patz. Erkennbar an der verwitterten, afrikanischen Holzskulptur, die stolz auf der Außenseite des Balkons die Eintreffenden überwacht. Scheinbar handelt es sich um eine weibliche Yoruba-Figur aus Nigeria – ein Flohmarktfund aus der Steiermark, wie mir der Hausherr nach der Be- grüßung erzählt.
Dahinter, auf der Fassade des Nebengebäudes, haben zwei der drei kleinen Schweinchen aus der Walt-Disney-Produktion „Three Little Pigs“ von 1933 ihren Platz gefunden: „Fiedler“, und „Pfeifer“, aus einem aufgelassenen Kindergarten in Voitsberg gerettet. Neben dem Hauseingang steht ein selbst gebauter Holztisch, der weitere Objekte beherbergt, die sich unter der Patzschen Sammelfreudigkeit angesammelt haben. Wetterhäuschen, aus denen entweder die Sonnenfrau für gutes oder der Regenmann für schlechtes Wetter herausschauen, alte Laternen, Automobile aus Porzellan, handgeschmiedetes Werkzeug, gedrechselte und aufwendig geschnitzte Gefäße aus Holz, Mineralienfunde, Hufeisen sowie Froschskulpturen aus verschiedensten Materialien bilden eine bunte Familie aus Alltagsgegenständen, Souvenirs und Kinderspielzeugen aus vergangener Zeit.
Treppaufwärts, vorbei an Erinnerungsstücken, Urkunden und Medaillen, weist mich Werner Patz auf die Holztram-decke hin, die auch in der gemütlichen Stube im ersten Stock sichtbar ist. Wie die Vertäfelung ist das Holz aus dem eigenen Wald. Die Balken der Geschossdecke waren so schwer und lang, daß es vieler Feuerwehrleute bedurfte, diese einzeln den steilen Weg zur Baustelle hinaufzutragen.
Zuerst gilt mein Interesse den vielen Bildern und Skulpturen, die sich in der Stube und dem angrenzenden intimen Arbeitsraum, der gleichzeitig auch Bibliothek und Archiv ist, verteilen. Grafiken und Tuschzeichnungen des Köflacher Künstlers und Initiators des „Weststeirischen Sagenberges“ Nikolaus Trnka-Strassnitzky und Ölbilder des Weststeirers Friedrich Ehrbar, über den Karl Kaemmereit schrieb: „Kein Werk, das nicht kraftvolle Dynamik verbände mit feinnerviger Sensibilität, die oftmals zurückhaltend humorige Züge aufweist.“ Rundherum Mitbringsel aus der ganzen Welt, Flohmarktfunde, Literarisches in seltenen Erstausgaben sowie hangeschnitzte Bauernsessel aus dem 19. Jahrhundert. Ein großes, hölzernes Krokodil vor einer Vitrine mit alten Gläsern und Flaschen. Eine ganze Armee von Bügeleisen aus altverkupfertem Metall, Gusseisen und Messing. Porzellan aus dem Besitz der Großmutter von Christine Patz.
In diesem gemütlichen Ambiente sitze ich nun mit Werner Patz und seiner Frau Christine, die zum Kaffee den besten Kirschkuchen meines bisherigen Lebens serviert. Werner Patz erzählt, daß er am 14. November 1941 hier geboren wurde und nach der Kainacher Volksschule und dem Hauptschulbesuch in Bärnbach eine Tischler- lehre begann. Schon in der Schulzeit konnte er mit dem Werkzeug besonders gut umgehen. Viele seiner perfekt proportionierten handgeschnitzen Figuren aus dem Handarbeitsunterricht, die an der Wand hinter dem Tisch in der Stube gruppiert sind, bezeugen diese Begabung. Und da sein Vater ein eigenes Kraftwerk für die Tischlerei betrieb, kannte Werner Patz mit seiner frühen Begabung für alles Technische schon als Kind mehr als die Grund- lagen der Gleichstrom-Elektrotechnik.
Sein erster Lehrherr in Köflach, der Tischlermeister Josef Untersinger aus der Mühlgasse, verstarb leider nach kurzer Zeit. Werner Patz musste daher seine Ausbildung in einem Betrieb in Fohnsdorf fortsetzen, wo er auch die Gesellenprüfung absolvierte. Danach folgte der Besuch der Meisterschule für Tischlerei am Grazer Ortweinplatz, die für ihre theoretische und praktische Ausbildung, für die Vermittlung der Furniertechniken und auch für die Holzveredelung wie Ölen, Wachsen, Beizen und Patinieren in den 60er-Jahren landesweit berühmt war.
Nicht einmal 20jährig schloss er diese nach zweijähriger Ausbildung als jüngster Tischlermeister in der Steiermark ab. Vor der Rückkehr nach Kainach absolvierte er den Grundwehrdienst in der Hadik-Kaserne bei der Aufklärungskompanie Fehring. Durch Bundesheer-Wettkämpfe, Gelände- und Orientierungsläufe entdeckte Patz die Liebe zum Ausdauersport und begann, immer intensiver zu trainieren.
Wie in vielen Familien, in denen der Sohn plötzlich im väterlichen Unternehmen werkt, entwickelte sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden Generationen nicht gerade harmonisch. 1965 ging Patz nach Hannover und arbeitete zwei Jahre in einer großen Chemiefabrik, wo Spritzzusätze für Oberflächenbeschichtungsverfahren zum Einsatz in der Luftfahrt entwickelt wurden. Danach setzte er wieder sein tischlerisches Können ein und baute für Brüsseler Imbissstuben die Einrichtungen aus Holz. Nur durch ein Wunder rettete er sich am 22. Mai 1967 unverletzt von seiner Baustelle, die in unmittelbarer Nähe des berühmten Kaufhauses „INNO“ (À l’innovation) lag, das während einer Präsentation von amerikanischen Konsumgütern völlig ausbrannte. Er besuchte Hamburg mit den alten Gaffelschonern und war vom Ausladen dieser Segelfrachter und von den Mengen der Matrosen, die aus der ganzen Welt kamen, begeistert.
Ab 1972 übernahm Patz die väterliche Tischlerei, bildete in der Folgezeit sechs Lehrlinge aus und widmete sich intensiv seinem wirklichen Lebensinhalt, dem Ausdauersport.
Der Ehe mit seiner Frau Christine entstammen zwei Söhne, Werner jun., der in dritter Generation im Jahre 2000 die Tischlerei übernommen hat, und Andreas, der auch mit besonderen technischen Fähigkeiten, die in dieser Familie scheinbar immer weitervererbt werden, ausgestattet ist.
Am 11. Februar 1973, einem äußerst kalten Sonntag, stand Werner Patz das erste Mal am Start des „Internationalen Tiroler Koasalaufs“, der u. a. von der Ski-Firma „Kneissl“ in Kufstein und dem damaligen Tourismusverbands-Obmann von St. Johann in Tirol, ins Leben gerufen wurde. Dass es damals in Österreich sehr schwierig war, ein Paar von Langlaufski zu kaufen, kann man sich heute gar nicht vorstellen. Patz fand in Graz im Alpenlandkaufhaus ein Paar sehr schmale und lange Skier und modifizierte sie noch einen Tag vor dem Start mit einer selbst umgebauten Bindung und viel Draht, um mit einem leichten Schuh an den Start gehen zu können.
Im Antlitz des Wilden Kaisers, von den Einheimischen ehrfürchtig „Koasa“ genannt, absolvierten damals mehr als 1000 Läufer die 38 bzw. 72 Kilometer von Kitzbühel über Kössen bis nach St. Johann in Tirol. Durch den starken Schneefall wurde auf wilden Routen der schnellste Weg nach Kössen und nach St. Johann gesucht. Mit der legendären Startnummer 973 schaffte es der Weststeirer in weniger als sechs Stunden, die äußerst schwierige Strecke zu überwinden und nach 72 Kilometern ins Ziel zu fahren. Von den 675 Läufern, die sich für die längere Rennvariante entschieden hatten, kamen auf Grund widriger Wetterumstände und des anspruchsvollen Kurses nur 356 ins Ziel.
Seit 2010 wird der Koasalauf ausschließlich auf Loipen der Region St. Johann in Tirol durchgeführt, deren Verlauf wegen Straßentrassierungen und Hausbauten immer wieder verändert werden musste. Werner Patz und mit ihm Franz Puckl sen., Franz Steinkogler und Hans Richter haben jede Streckenänderung miterlebt. Diese vier Athleten werden auch als „Die Legenden vom Koasalauf“ bezeichnet, da sie an allen durchgeführten Wettbewerben teilnahmen. Weder schlechtes Wetter, Krankheit, noch sonstige Ereignisse konnten die vier davon abhalten, die Koasalaufstrecke zu bewältigen. Treffend heißt es in einem geschichtlichen Rückblick über den „Koasa“: „Der Lauf hat sich verändert, aber die Legenden sind geblieben“.
Werner Patz hat im Laufe seiner aktiven Tätigkeit, die bis zum heutigen Tage andauert, weltweit an über 1200 Langlauf- und Skilanglaufveranstaltungen teilgenommen. Allein sechs Mal absolvierte er die 100-km-Läufe von Biel, Kopenhagen und den Allgäuer Meisterschaften in Illertissen. Bei den Weltbestenkämpfen in Berlin und Teneriffa über die Marathondistanz konnte er sich den 21. Rang sichern. Das „Birkebeinerrennet“, ein 54 Kilometer langer Langlaufwettbewerb mit Start in Rena und Ziel in Lillehammer, der „Engadin Skimarathon“, größte Skilanglaufveranstaltung der Schweiz, der „Osttiroler Dolomitenlauf“ sowie der „König-Ludwig-Lauf“ in den Ammergauer Alpen waren weitere Fixpunkte des Rennläufers.
Der weststeirische Ausnahmeathlet war erst der zweite Österreicher, der den Worldloppet bestritt. Dabei handelt es sich um ein Ultraskilanglaufrennen, das 1978 in Uppsala gegründet wurde. Ziel für den Sportler ist es, an zehn verschiedenen Worldloppet-Marathons teilzunehmen, deren Länge jeweils bis zu einer Distanz von 100 km ausgelegt ist. Mindestens ein Lauf muss auf einem anderen Kontinent absolviert werden. Für seine erfolgreichen Teilnahmen und Spitzenplatzierungen in den USA, in Kanada, Norwegen, Finnland, Frankreich, Deutschland und Österreich erhielt Werner Patz den Titel eines „Worldloppet-Masters“.
Einen großen Raum im Leben des „Distinguished Austrian Sportsman“ aus Kainach nehmen seine Lappland-Winterduchquerungen ein. Sieben Mal hat er an diesem sagenumwobenen Wettbewerb teilgenommen und sich durch die nicht enden wollenden Tage und lange, dunkle Polarnächte gekämpft. Die Dauer dieses Wettbewerbs beträgt 13 Tage, – die Streckenlänge 350 Kilometer – über unzählige Berggipfel und durch Täler, die nicht einmal das Polarlicht zu erhellen vermag. Vorbei an Seen und Birkenwäldern, über die auslaufenden Bergmassive des Áhkká und dem Kebnekaise (dem höchsten Berg Schwedens) hat sich Werner Patz gekämpft. Er erzählt mir, dass der Name des Berges Selma Lagerlöf zu ihrem Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ inspirierte. Sie nannte die Anführerin der Wildgänse „Akka von Kebnekaise“. Und dieser Berg wurde auch von Nils Holgersson auf dem Rücken der Gänse überflogen. Ohne auf gefiederte Freunde zurückgreifen zu können, musste Werner Patz auf seiner Tour nördlich des Polarkreises bis zu 12 000 Höhenmeter bewältigen. Auch am „Vasaloppet“, einer der größten Skilanglaufveranstaltungen der Welt, gleichzeitig auch ein Lauf der Worldloppet-Serie, hat Patz teilgenommen. 95 Kilometer lang ist dieses klassische Rennen zwischen den Orten Sälen und Mora, und das Motto auf dem Banner über der Ziel- linie des Wasalaufs klingt heroisch. „I fäders spårför framtids segrar“: „In der Spur der Väter – für die Siege der Zukunft“. Unvergessliche Erinnerungen hat der Ausnahmesportler an die Zeit in Schweden. Beispielsweise an die traditionelle Blaubeersuppe aus Heidelbeeren, Wasser, Zucker und Zimt, die den Teilnehmern während des Laufes gereicht wird. Oder von den Geschichten der nordischen Kollegen, die erzählten, wie sich einst das Rennen aus der Jagd nach Wölfen und Bären auf primitiven, selbsthergestellten Skiern mit einfacher Schlaufenbindung entwickelt hat. Nach Kainach hat er ein wunderbares, handgeschmiedetes und geschnitztes Messerpaar aus Lappland mitgebracht; die Griffe aus verschiedenen Hölzern und kunstvoll verziertem Rentierhorn, die Lederscheide geschmückt mit nordischem Decor.
Sein sportliches Talent und seine Erfahrung stellte Werner Patz stets mit großer Ausdauer in den Dienst der Allgemeinheit. Er war über ein Jahrzehnt die tragende Säule des „Internationalen Kainacher Bergmarathons“, einer Sportveranstaltung der Extraklasse, die für Läuferinnen und Läufer eine echte Herausforderung darstellt. Er hat diesen Wettbewerb, der neben einer Distanz von rund 44 Kilometern auch eine Gesamthöhendifferenz von ca. 1800 Metern aufweist, nicht nur gelebt, sondern durch seine neunmalige Teilnahme auch geprägt.
Bekannt ist dieser Lauf auch durch Johann Kastenberger, der seit 1988 den Streckenrekord des Kainacher Bergmarathons hält. Er ist als „Pumpgun-Ronnie“ in die österreichische Kriminalgeschichte eingegangen. Nach einem Banküberfall im Jahr 1977 wurde er verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung der Haft und zahlreichen Banküberfällen erschoss er einen 28-jährigen Mann. Nach der erneuten Festnahme gelang ihm eine spektakuläre Flucht. Kurz vor St. Pölten durchbrach Kastenberger eine Straßensperre, wurde angeschossen und richtete sich mit einem Kopfschuss selbst. Er scheint wohl eine gespaltene Persönlichkeit gewesen zu sein. Werner Patz hat ihn nämlich als äußerst, sympatischen, humorvollen und fairen Sportkollegen in Erinnerung, der mit seiner charmanten Freundin oft in Patzs gemütlicher Stube zu Gast war.
Werner Patz ist, wie am Land üblich, auch Mitglied der Feuerwehr und Träger des Leistungsabzeichens in Bronze. Auf der Schanz, Richtung Gleinalm, hat er in den 70er-Jahren mit Kollegen unter sehr schwierigen Umständen vier Tote nach einem Flugzeugabsturz in 1300 Metern Höhe geborgen. Über eine weite Strecke mussten die Särge über Grasflächen bis zu einer Forststraße geschoben werden, wo sie in einen Jeep umgeladen werden konnten. Er erinnert sich auch an einen großen Löscheinsatz im Jahre 1962, als die vom Militär genützte Rotbachhütte abbrannte, und an viele Hochwassereinsätze wegen sintflutartiger Regenfälle.
Unzählige weitere Geschichten und Anekdoten könnte mir Werner Patz erzählen. Er ist ein Mensch voller Tatendrang und Wissendurst und meistert die ausdauerndsten Aufgaben mit Vergnügen. Dazu kommt noch seine kreative Seite mit der handwerklichen Begabung. Ein Mann, der nach wie vor viel reist, sich überall zurechtfindet und dessen Weltanschauung so global ist wie seine Kontinente umspannenden sportlichen Aktivitäten.
2013 hat er nach Abnahme seiner vielen erbrachten Leistungen das Österreichische Sport- und Turnabzeichen in Gold von jenem ÖSTA-Funktionär in Empfang genommen, der ihn schon 30 Jahre früher mit dem bronzenen ausgezeichnet hatte.
Vor dem Ende unseres Treffens kommen wir auch auf die Imkerei zu sprechen, da mir im Aufgang des Hauses einige Tuschzeichnungen von Honigetiketten und Werbeschildern aufgefallen sind. Werner Patz ist nicht nur Imker, dessen Bienen im eigenen Wald einen herrlichen Lebensraum zur Produktion von herb-süßem Waldblütenhonig vorfinden. Er kennt sich auch im Bau von Stöcken aus. Schon sein Vater, Franz Patz, hat eine Kastenkonstruktion entwickelt und eine eigene Bienenstockproduktion betrieben.
Nach einer Bypassoperation im vorigen Sommer wieder topfit, bereitet sich Werner Patz gerade auf die Teilnahme beim Koasalauf Mitte Februar 2017 vor, um seine Geltung als Legende dieser Tiroler Veranstaltung noch weiter auszubauen.
Ski Heil, Werner. Und einen kräftigen Doppelstockschub!
Aus der Portraitreihe: Westendstorys von R.W. Sackl-Kahr Sagostin
Photographie & Text: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
Instagram: _sagostin_