Dokumentarfilmer und Teppichwissenschaftler.

Wilfried Stanzer ist am 15. Februar 1944 in Semriach bei Graz als Kind einer Ärztefamilie geboren und in Lieboch aufgewachsen. Er ist Österreichs einziger hauptberuflicher Teppichwissenschaftler. Von allem Anfang an hatte er das Glück, durch sein profundes Wissen die bedeutendsten Fachleute der Welt – ob Museumskuratoren oder engagierte Sammler – als Freunde und Mentoren um sich scharen zu können.

Seine Lebensgeschichte begann aber ganz anders. Schon während der Mittelschulzeit entwickelte sich die intensive Liebe zu Fotografie und Film. So wurde das elterliche Badezimmer immer öfter zur Dunkelkammer umgebaut. Dann folgten die Matura,  einige Semester an der medizinischen Fakultät und ab 1967 ein Studium an der Filmakademie in Wien. 1969 drehte Wilfried Stanzer in Afghanistan seine mittlerweile legendäre Fernsehdokumentation „Vorsprung der Rückständigen“ und machte sich auf der Stelle einen Namen als Dokumentarfilmer mit dem Schwerpunkt Orient. 1972 folgte die Produktion „Träume wachsen in Afghanistan“ und 1978 die Filmserie „Afghanistan, Reise ins Mittelalter – Suche nach der Hauptstadt der Ghoriden“.

1980, nach einer Teilnahme an der ORF-Diskussionssendung Club 2 mit dem Gastgeber Günther Nenning legte er nach Sendeschluss, schon im Morgengrauen, mit einem Freund auf dem Parkplatz des Küniglberges den Grund- stein für die Gründung des Österreichischen Hilfskomitees für afghanische Flüchtlinge.

Als Orientreisender, der anfänglich seinen alten VW Käfer von der Weststeiermark über Teheran und Maschhad bis nach Kabul und weiter in den Norden nach Kunduz und Emam Salieb in den Kern Zentralasiens pilotierte, blieb ihm im Laufe der vielen Reisen der Zauber, den die Teppichkunst ausstrahlt, nicht verborgen. Nach langer intensiver Filmtätigkeit fühlte er sich zur Teppichwissenschaft hingezogen und erreichte in kürzester Zeit eine Meisterschaft in diesem für ihn neuen Metier. Durch seine fundierten Fachbeiträge sowie als Österreich-Repräsentant der Londoner Fachzeitschrift HALI (das bedeutendste Magazin der Welt für antike Teppiche, Textilien und islamische Kunst) zwischen 1982 und 1986 erhielt er internationale Aufmerksamkeit, die in der Verleihung des McMullam Awards des Near Eastern Reserch Centers in den USA gipfelte. 1982 bis 1998 kam auch die Arbeit als Präsident der Gesellschaft zur Förderung der Textil-Kunst-Forschung, TKF, hinzu. 1986 zeichnete er für die Durchführung der 5. Internationalen Konferenz des Orientteppichs zeitgleich in Wien und Budapest verantwortlich. Sie wurde zum prominentesten mitteleuropäischen Teppichereignis des letzten Jahrhunderts. Seine grenzüberschreitende kulturelle Funktion erinnert daran, welche internationale Bedeutung die beiden Donaumetropolen als Zentrum der österreichisch-ungarischen Monarchie in der Welt der Teppichforschung innehatten.

Die internationale Beachtung Wilfried Stanzers Arbeit spiegelt sich auch in seiner zweimaligen ICOC-Präsidentschaft (International Conference on Oriental Carpets) wider. Das ist weltweit das höchste Gremium in diesem Wissensbereich. Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Orientteppich immer mehr zu einer Massenware verkam und dadurch seinen Ruf als Inbegriff des orientalischen Lebens einzubüßen drohte, wurde ab 1995 bei Wilfried Stanzer erstmals der Wunsch laut, das theoretische Wissen auch praktisch umzusetzen.

Als Initiator und  Leiter des Projektes „Ait Khozema“ (Wiedereinführung traditioneller Fertigungsmethoden bei marokkanischer Textilherstellung im ländlichen Bereich) hob er im Dorf Amassine – auf 2000 Meter Höhe im Hohen Atlas gelegen – dieses wissenschaftliche Experiment aus der Taufe, um endlich auch praktisch dem Geheimnis des Glanzes alter Teppiche nachzuspüren. Aber um dieses Geheimnis lüften zu können, musste er erst archaische und vergessene Produktionsmethoden studieren. Und um definitiv den Mysterien der Berberknüpfmethodik auf die Schliche zu kommen, ließ er die Weberinnen in jenen Techniken produzieren, welche deren Vorfahren vor über 200 Jahren anwandten. Natürlich gänzlich ohne chemische Stoffe und maschinelle Endfertigung. Das bedeutet viele Verarbeitungsphasen in sehr zeitaufwendiger und anstrengender Handarbeit. Die rohe Schaf- wolle wird in kalten Bächen gewaschen. Um die langen Haare von den kurzen zu trennen, wird eine spezielle Art des Wollkämmens angewendet. Versponnen wird nicht nur von Hand, sondern auch mit Werkzeugen, die nach alten Vorlagen hergestellt wurden. Das Färben erfolgt ausschließlich mit pflanzlichen Pigmenten. Nach der Webarbeit beginnt erst die detailreiche Endfertigung. Die Frauen des marokkanischen Dorfes Amassine sind mittlerweile Meisterinnen dieser traditionellen Teppichherstellung. Etwa 150 einzigartige Stücke entstehen jedes Jahr auf diese Art, die in der Tradition der Berber viel mehr bedeuten als Alltagsgegenstände, die u. A. als wärmende Decken genützt werden. Sie sind von einer göttlichen Kraft erfüllt und durchdrungen, die auf den Benutzer übergeht. „Baraka“ heißt dieses Potenzial im islamischen Volksglauben und es ist so stark, dass es von einer Person auf die Nachkommen weitervererbt werden kann. Viele Motive, die in die Teppiche hineingeknüpft werden, schützen daher auch gegen den „bösen Blick“ oder sollen Segen und Fruchtbarkeit bringen.

Das einzigartige Pilotprojekt entstand unter der Schirmherrschaft des marokkanischen Ministeriums für Industrie und Handwerkskunst. Mittlerweile ist das Selbsthilfeprojekt unter der fachlichen Aufsicht des Teppichwissenschaftlers so prächtig gediehen, dass es weltumspannend von einigen auserlesenen Galerien getragen wird. Von diesem Projekt und über die Forschungsarbeit Wilfried Stanzers in Marokko wurde durch NDR/ARTE ein wunderbarer Film unter der Regie von Monika von Behr produziert, die auch das Drehbuch verfasste.

Besonders Stolz kann Stanzer auch darüber sein, daß seine „Ait Khozema-Schöpfungen“ nicht nur von der hochgebildeten Oberschicht Marokkos, sondern auch von französischen Modedesignern enthusiastisch ins Herz geschlossen wurden. Hochsensible Orientteppiche abseits der Massenware, welche bei unzähligen Menschen den Wunsch auslöst, diese handgearbeiteten, authentischen Kunstwerke besitzen zu wollen.  Der Erwerb dieser Teppiche in klassischer Art der Wollaufbereitung sichert den Menschen im Atlas einen Verbleib in ihren Dörfern und dem ureigenen kulturellen Umfeld. „Es handelt sich dabei aber nicht um Entwicklungshilfe, sondern um faire Geschäfte mit Dörfern des Berberstammes der Ait Khozema“, wie Stanzer erzählt. Und er ergänzt: „Der wahre Schatz des Atlasgebirges liegt nun in der Hand von rund 2000 Frauen.“


Unzählige Publikationen, die mittlerweile zu den internationalen Standardwerken der Teppichforschung zählen, hat Wilfried Stanzer veröffentlicht. Darunter die Werke „Kordi – Leben, Knüpfen, Weben der Kurden Khorasans“ (1988), „Berber – Stammestextilien aus Marokko“ (1991) und „Marokkanische Teppiche“ (1998) . Laufend erscheinen Artikel in Fachzeitschriften wie HALI, Ghereh, Heimtex und Forschungstexte wie „Berber” im Ausstellungskatalog des Museums Bellerive in Zürich.

Für seine wissenschaftliche Tätigkeit und sein starkes Engagement für die Belebung alter Knüpftraditionen im nordafrikanischen Raum wurde dem weststeirischen Dokumentarfilmer im Jahre 2000 vom Bundespräsidenten    Thomas Klestil der Berufstitel Professor verliehen.

Aus der Portraitreihe: Westendstorys von R.W. Sackl-Kahr Sagostin
Photographie & Text: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
Instagram: _sagostin_